■ Das Mädchen mit dem Gulden1), III. Teil
Eine wahre Geschichte aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges
III.
Süssenbach endigte hier, und als er die letzten Worte mit bewegter Stimme ausgesprochen hatte, ließ Chavah ihre Hand von den Augen sinken und sie ihrem Mann darreichend, sprach sie unter Tränen: „Vergib mir, mein lieber Georg, wie ich hoffe, daß Gott mir auch vergeben wird. Vergiß es nicht, wie tief Deine Erzählung mein Mutterherz niedergebeugt hatte! Soll eine Mutter nicht um ihre Kinder besorgt sein? Muß sie nicht mutlos werden, wenn mit einem Mal alle ihre Hoffnungen getäuscht werden? Muß sie nicht bitterlich weinen, wenn ihre Kinder nach Brot schreien und sie kann ihnen nichts geben?“ „Dies kann ich Dir nicht ableugnen,“ sagte der Senior, „ja ich gestehe Dir, daß ich hätte an Dich und unsre Kinder denken und wenigstens etwas für uns retten sollen. Aber Gott weiß es — der Anblick der übergroßen Not hatte mich dies Alles vergessen gemacht — und als ich daran gedachte, war es zu spät. Nun ist es einmal geschehen, und Gott wird uns auch nicht verlassen. Darum verbanne alle zu großen und ängstlichen Sorgen, wer weiß, wie nahe die Hilfe ist. Auch weißt Du, daß wir noch viele Scheffel Getreide zu erwarten haben und das soll dann für unser Haus bestimmt sein. Gehe nun an Dein Tagewerk, meine liebe Chavah, und vertraue Gott! Auch ich will mich nur ein wenig umkleiden, und dann einige Kranke besuchen, die gewiß sehr nach einem Trostworte verlangen.“
Und so geschah es. Während Süssenbach seine Krankenbesuche in der Stadt machte, begab sich die Hausfrau in die Küche, um aus den ärmlichen Resten ein kärgliches Mittagsmahl zu bereiten.
Als nun die Mittagsstunde gekommen war, und der Hausvater in die Familienstube trat, um mit den Seinen das Mahl einzunehmen, das schon auf dem Tisch bereit stand, wurde sein Herz durch den Anblick seiner Gattin aufs Neue gerührt. Diese stand mit dem jüngsten Kind im Winkel des Fensters und konnte, so sehr sie es auch versuchte, ihren Angen die Tränen nicht wehren, die still über ihre Wangen flossen. „Was fehlt Dir, Mutter,“ fragte Süssenbach, „ist Dir ein neues Unglück begegnet, das Dich so schwer niederbeugt?“ „Ach nein,“ antwortete sie, „es ist das alte Leid, das mich drückt. Sieh hin auf unsern Tisch! das ist mein ganzer Reichtum, den ich für Dich und die Kinder habe. Es ist der Rest des vertrockneten Brotes, das Du von Deinem Frühstück übrig gelassen hast. So weit war es doch noch nicht mit uns gekommen, daß wir mit den Gefangenen und Sträflingen dasselbe Mittagsessen haben — eine Wassersuppe mit Brot.“ „I nun,“ entgegnete der Senior so freundlich scherzend als möglich, „können die Gefangenen und Sträflinge davon sich sättigen und gesunden Leibes bleiben, so können wir es wohl auch! Zudem sind wir ja alle nichts anderes, als Gefangene und Sträflinge. Wir sind gefangen in unserer eigenen Ohnmacht, in unserer Verblendung und hier in dem Vorurteile, als könne nicht auch einmal eine Wassersuppe des Leibes Notdurft stillen. Und wenn wir an unser Stückwerk vor Gott denken, sind wir doch nur arme Sträflinge. Also gräme Dich darum nicht, liebe Chavah. Kommt und laßt uns beten.“
Während nun die Kinder sich um den Tisch stellten und Frau Chavah mit ihrem schmerzlich freundlichen Blicke ihrem Manne die Hand reichte, entblößte Süssenbach sein Haupt und sprach: „Herr und Gott, wir danken Dir für Deine Gaben, die Du uns auch heute bescheret hast. Wir sind es nicht Wert, daß Du so Großes an uns tust und lassest Deine Güte und Treue täglich an uns neu werden. Vergib uns alle unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern. Gib uns ein zufriedenes, genügsames Herz, und erhalte in uns Liebe, Mitleid und wohltätigen Sinn. Aller Augen warten auf Dich, Herr, und Du gibst ihnen ihre Speise zu seiner Zeit. Komm, Herr Jesu, sei unser Gast, und segne uns, was Du bescheret hast! Amen.“
Eben aber, als alle an dem Tische Platz genommen hatten, und das Essen beginnen sollte, klopfte es an die Tür. Die Hausfrau erschrak und errötete, und machte Miene, die Schüssel mit dem Tuche zu bedecken. Süssenbach aber wehrte es ihr freundlich und rief: „Herein!“ Und herein trat ein Dienstmädchen mit einem großen Korbe am Arme. Sie brachte einen Gruß von ihrer Herrschaft und setzte hinzu: „Der Herr Senior möge es nicht übel nehmen, daß der Herr Bürgermeister sich erlaube, einen Teil seines heutigen Mittagessens ihm zu schicken. Als nämlich die Frau Bürgermeisterin den großen Braten auf den Tisch gebracht habe, sei es ihm sogleich in den Sinn gekommen, das Überflüssige dem Herrn Senior mitzuteilen, weil vielleicht die unvermutet schnelle Zurückkunft die Frau Senior verhindert habe, auf ein reichlicheres Mittagsmahl bedacht zu sein.“ Süssenbach blickte bald auf seine Frau, bald auf die Magd und sagte endlich zu dieser gewendet: „Heißt Du nicht Margarethe Roth?“ „Ach ja, Herr,“ antwortete die Magd, „ich bin dasselbe arme, verlassene Mädchen, dessen Ihr Euch erbarmt habt. Euch allein danke ich's, daß ich jetzt nicht noch umherwandern muß, sondern eine so gute Herrschaft gefunden habe. Wer weiß, was aus mir geworden wäre, wenn ihr Euch nicht meiner angenommen hättet. Gott vergelte es Euch tausendmal, ehrwürdiger Herr!“
„Nun Chavah,“ wandte sich der Senior zu seiner Hausfrau, „zweifelst Du noch, wie wunderbar Gottes Wege sind?“ Diese aber errötete über und über und ihr mit Tränen erfülltes Auge redete deutlich, was der Mund verschloß. „Willst Du nicht nehmen, was der Herr uns sendet?“ fragte Süssenbach. Und nun erst erhob sich Chavah, um den Inhalt des Korbes in Empfang zu nehmen. Da fand sich denn ein großes Stück gebratenes Fleisch, eine Schüssel mit Gemüse und eine Flasche Wein! Welch ein Reichtum, welch fröhlicher Anblick der Kinder, als diese ungewohnte Herrlichkeit sich auf dem Tische ausbreitete! „Liebe Margarethe,“ sagte nun der Senior zur Magd, „Gott weiß es, daß das wenige Gute, was mir zu tun möglich ist, aus einem uneigennützigen Herzen kommt; aber daß gerade Du es bist, die uns heute diese Gaben überbringt, ist mir so erfreulich und überzeugt mich so sehr von der gnädigen Vergeltung unsers himmlischen Vaters, daß ich mit bereitwilligem Herzen annehme, was Du uns bringst. Laß nun auch dir gesagt sein, daß Gottes Hilfe am nächsten ist, wenn die Not am größten. Grüße Deine milde, freundliche Herrschaft von mir und den Meinen und bringe vorläufig unseren innigsten Dank, bis ich selbst kommen werde, meine Pflicht zu erfüllen.“ Und als nun die Magd fort war und die Hausfrau mit zitternder Hand die Gabe auszuteilen begann, setzte der Senior noch hinzu: „Was meinst Du nun, liebe Chavah, ist der heutige Tag nicht wirklich ein Festtag geworden? und findest Du nicht abermals, daß die Gottseligkeit auch zur Beruhigung des furchtsamen Gemütes nütze ist und wirklich auch die Verheißung dieses Lebens hat?“
Die glückliche Hausfrau vergaß nun alles andere Leid, was der heutige Tag in seinen so bitteren Täuschungen über sie gebracht hatte. Und der HErr hat auch ferner durch alles Schwere glücklich und siegreich hindurch geholfen. In christlich durchbildeten Seelen reicht ein Sonnenblick schon hin, die Macht der Furcht und Angst zu vertreiben, weil dieser eine Sonnenblick als Bote Gottes in Herz und Leben tritt und das Wort mitbringt: „Der von einem Übel erlöset hat, wird wohl auch von allen andern erlösen.“ Das ist der Nutzen der Gottseligkeit zu allen Dingen und für ein helles Auge und für ein gläubiges Gemüt eine täglich erfüllte Verheißung dieses Lebens.
Ob nun wohl dies herrliche Wort der Schrift sich auch in der letzten und schwersten Prüfung, in der Stunde des Todes, bewährt? Nun, lieber Leser, darüber möge Dir die Todesstunde unsers treuen Seniors Süssenbach, wie solche in dem Geschichtsbuche der Stadt Pitschen aufgezeichnet steht, Antwort geben.
Fortsetzung folgt
Der obigen Geschichte Teil I und Teil II
Aus: NN, Senior Süssenbach, Teil III, in: Echo aus der Heimath und Fremde, Hgb. J.D. Prochnow, Nr. 8, 5. Jhrg., Pfarrhaus der St. Johannis-Kirche Moabit, Berlin 1868, [S. 121-122]
Anmerkung der Redaktion: 1) Im Original lautet der Titel der Erzählung: „Senior Süssenbach“. Der Wortlaut wurde der zuletzt gültigen Rechtschreibung angeglichen. 2) Pastor Süssenbachs Kurzvita in der „Presbyterologie des evangelischen Schlesiens“ und eine ausführliche in der „Geschichte der Stadt Pitschen“
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ERSTELLT: 11.XII.2011
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