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Gertrud Gräfin Schack von Wittenau

    Mitbegründerin des deutschen Feminismus

 

 

 

       Gertrud Gräfin von Schack (Guillaume-Schack)     

       * 9. November 1845 zu Uschütz, Kreis Rosenberg OS.      

       † 20. Mai 1903 in Surbiton, Großbritannien

 

 

 

 

 

 Ein Jahr ist verflossen, seit eine unserer Besten im fremden Lande die letzte Ruhestätte gefunden hat. Nur wenige gedenken heute noch der einst Vielgenannten und Vielgeschmähten, die Mut genug besaß, als erste in Deutschland den Kampf gegen ein unsittliches Gesetz aufzunehmen, eine gleiche Moral für Mann und Weib zu fordern und diese ihre Überzeugung öffentlich zu verfechten.

 

 Gertrud, Gräfin Schack, hat eine freie Kindheit und Jugend auf dem Lande genossen, der auch das schönste Glück nicht fehlte — die liebevolle Leitung eines Vaters, der allen seinen Kindern stets ein Vorbild edlen Menschentums geblieben ist. Auf einer Reise in die Schweiz lernte sie den jungen Künstler kennen, dem sie als Gattin nach Paris folgte, und von dem sie nach der bald erfolgten Trennung selten sprach; sie klagte nicht über den, der ihr so nahe gestanden, dessen Eltern lebenslang ihre besten Freunde blieben.

 

 Der Aufenthalt in Paris wurde auch in anderer als der rein persönlichen Weise für ihr Leben bedeutungsvoll, denn hier wurde sie durch den protestantischen Pastor Fallot mit der Arbeit des „Britisch-Continentalen und allgemeinen Bundes“ (Föderation) bekannt, und eine neue Welt des bittersten Elends, der entwürdigenden Rechtlosigkeit weiblicher Wesen zeigte sich vor ihren entsetzten Augen. Der Bund fordert die Aufhebung der sogenannten Sittenkontrolle der Polizei und vor allem der damit verbundenen ärztlichen Zwangsuntersuchung, welche die Polizei auch über ihr verdächtig Erscheinende verhängen kann, während bei eingeschriebenen Prostituierten die Versäumnis derselben mit Gefängnis und Arbeitshaus gestraft wird.

 

 Als neu angeworbenes Mitglied lernte Frau Guillaume-Schack auf dem Kongreß des Bundes zu Lüttich Frau Butler kennen, seine Gründerin und eifrigste Vorkämpferin in England, dessen Verhältnisse freilich die Agitation sehr erleichterten. Denn das infamierende Gesetz war erst wenige Jahre zuvor unter dem ganz unschuldigen Namen eines Gesetzes gegen ansteckende Krankheiten durch das Parlament heimlicherweise durchgedrückt worden und erregte lebhafte Empörung, als seine Bedeutung allgemein bekannt wurde, sodaß seine Abschaffung im Jahre 1886 für die gebrachten Opfer reichlich entschädigte. In den Kontinentalstaaten dagegen schwang das Gesetz seine Geißel über der weiblichen Bevölkerung seit Anfang des Jahrhunderts und war somit Gewohnheitsrecht geworden, ehe man sich der Schmach dieses Herkommens bewußt wurde. So blieb auch die lebhafte Protestbewegung, welche sich nach englischem Vorbild in Frankreich und Italien, in Holland und Belgien, später in der Schweiz und in Amerika entfaltete, lange ohne greifbaren Erfolg.

 

 Frau Guillaume-Schack beschloß, die Bewegung in Deutschland zu entfachen, und ihr begeisterter Mut half ihr über die ersten Schwierigkeiten hinweg. Professor [S. 678:] Stuart aus Cambridge half mit gutem Rat und mit genauer Kenntnis der deutschen Verhältnisse, wie seine Briefe aus dieser Zeit beweisen. Einen Zweigverein des Britisch-Continentalen Bundes zu gründen, verbot das preußische Vereinsgesetz, da der Bund sich mit öffentlichen Angelegenheiten befaßt. Der deutsche Verein trat selbständig in die Erscheinung; als „Kulturbund“ erblickte er in Beuthen [Beuthen a. d. Oder, - Anm. d. Red.] das Licht der Welt. Hier lebte die Gründerin bei ihren Eltern; hier im kleinen Ort reichte der Einfluß einer hochgeachteten Familie zunächst aus, um einen Mittelpunkt für die Agitation im Deutschen Reiche zu schaffen.

 

 Die Führerinnen der Berliner Frauenbewegung, Frau Morgenstern, Frau Dr. Tiburtius liehen ihren Beistand und den Einfluß ihres Namens, aber trotzdem ging es langsam vorwärts. Als in einer Versammlung im Rathaussaal ein paar rohe Burschen sich ungehörige Bemerkungen gestatteten — ein unbedeutender Zwischenfall, — erklärte der Magistrat, er gebe seinen Saal nicht mehr zu Frau Guillaumes Versammlungen her. Und er hielt sein Wort, konnte sich freilich auch darauf berufen, daß kein angesehener Mann die anrüchige Sache auch nur mit einem Finger berühren wollte. Die wenigen, die anfänglich Sympathie zeigten, traten sehr bald wieder zurück, und während überall anderwärts Professoren und Ärzte, Juristen und Politiker, vor allem Geistliche, unter ihnen Bischöfe der Landeskirchen sich der Bewegung anschlossen, deutete man bei uns bestenfalls höflich an, es schicke sich nicht für anständige Menschen, dergleichen öffentlich zu besprechen.

 

 Welcher billig Denkende kann von der Frau mehr sozialpolitische Einsicht als von dem Manne, mehr Mut dem Ungewöhnlichen gegenüber fordern? Nicht spurlos ging die feurige Mahnung an ihrem Gewissen vorbei, aber statt sich an dem Kampfe um das Recht zu beteiligen, gründeten sie wohltätige Anstalten. Almosen geben ist anständig und erlaubt; gegen die Polizei anzukämpfen schwierig, Partei für die Straßendirnen nehmen — das schickt sich nicht.

 

 In ganz Deutschland wiederholten sich diese Erfahrungen, bis die Polizei im Jahre 1882 in Darmstadt eine Versammlung auflöste, worauf eine Anklage wegen groben Unfugs gegen die Rednerin und die Vorsitzende folgte. Die Klarstellung vor Gericht ergab die Wahrheit aller Behauptungen des Referats, sowie einstimmige Anerkennung der würdigen und ernsten Redeweise der Referentin; es wurde festgestellt, daß Kinder von dreizehn und vierzehn Jahren in die Liste der Prostituierten eingeschrieben werden, daß bei keiner Minderjährigen die Eltern je benachrichtigt werden, daß ihr Kind die Prostitution gewerbsmäßig betreiben darf, solange sie den polizeilichen Vorschriften folgt; daß also dies das einzige Gewerbe ist, welches eine Unmündige ohne Erlaubnis der Eltern betreiben darf. Ein anderes ist die Behauptung einer angefeindeten Frau, ein anderes die gerichtliche Feststellung einer Tatsache. In Wahrheit befand sich die Sittenpolizei auf der Anklagebank und wurde nicht, wie die beiden Verklagten, freigesprochen. Frau Guillaume ist nicht wieder in die Lage gekommen, die Wahrheit ihrer Behauptungen vor Gericht zu erweisen.

 

 Allmählich kam Leben in die Bewegung. Berlin erhielt 1883 einen Zweigverein des Kulturbundes, man petitionierte an den Reichstag, antichambrierte bei Kultus- und Justizminister, hielt Versammlungen und verteilte zahlreiche Flugblätter und Broschüren. In den zumeist sehr besuchten Versammlungen gab sich stets die lebhafteste Teilnahme kund, und mancher Einzelfall, in dem die Gekränkten sich bei Frau Guillaume beschwerten, fand Berücksichtigung und Abhilfe. Daß von da an die bösesten [S. 679:] Auswüchse des Systems einigermaßen beschnitten worden sind, ist allein der tapfern Frau zu verdanken, die mit dem Lichte unbestechlicher Wahrheitsliebe zuerst in die dunkelsten Tiefen leuchtete.

 

 Bei den orthodoxen Kreisen, deren Bekämpfung der Unsittlichkeit sie mehrmals rühmend hervorhob, suchte Frau Guillaume Anschluß und Unterstützung. Ihrer einfachen Aufrichtigkeit galt es als selbstverständlich, daß der herbe Tadel gegen die Unsittlichkeit, das hohe Lob für Frau Butlers Tätigkeit die Bereitschaft in sich schließe, auch in Deutschland Frau Butlers Werk zu fördern. Aber als in Düsseldorf ein Zweigverein des Kulturbunds gegründet werden sollte, vereitelten die einflußreichen konfessionellen Kreise sein Zustandekommen und traten jeder Agitation dafür in feindseligster Weise gegenüber. Sie gründeten in den Rheinlanden einen christlichen „Verein zur Hebung der Sittlichkeit“, und ihr Organ, der schon vorher bestehende „Korrespondent“, suchte die Bewegung ganz in das orthodoxe Fahrwasser zu leiten — es lobte Frau Guillaume mit leisen Vorbehalten. Die innere Mission veröffentlichte eine Broschüre, die sich mit voller Schärfe gegen den Kulturbund und die Föderation richtete. Das Organ dieser letztern, Bulletin Continental, war starr über diesen Angriff eines vermeintlichen Freundes. Die englischen Geistlichen verstanden nicht, warum ihre deutschen Amtsbrüder eine Sittlichkeitsbewegung bekämpften, sobald sie sich gegen polizeiliche Schäden richtete. Ihnen ist die unbedingte Parteinahme für die Polizei ebenso fremd, wie die engherzige Unduldsamkeit, die einem sittlich oder geistig notwendigen Kampf den Rücken kehrt, wenn sich Juden oder Freidenker daran beteiligen. Die verschiedene Haltung der berufenen Schützer der Moral hat denn auch in England und Deutschland sehr verschiedene Früchte gezeitigt.

 

 Wer sich mit Ernst und Eifer einem sozialen Problem widmet, der kann sich dem Andrängen weiterer Fragen nicht entziehen. Das heiß umstrittene Gebiet der Frauenarbeit, deren Freigebung von den Bürgerlichen gefordert wurde, während die Arbeiterinnen Einschränkung verlangten, offenbarte den Klassengegensatz in schroffster Weise. Die bürgerlichen Frauen forderten Einlaß in die vornehmen und einträglichen Berufe, und die Arbeiterin hat dagegen durchaus nichts einzuwenden; daß aber auch absolute Freiheit der Arbeit im allgemeinen gefordert wurde, fand ihre lebhafte Gegnerschaft, denn sie wußte wohl, daß damit in Wahrheit nur Freiheit der Ausbeutung erreicht wird. Heute liegt der Beweis hierfür klar zu Tage in der geschützten Fabrik-, der ungeschützten Heimarbeit. Damals galt es zu lernen, und Frau Guillaume, die ihre Agitation allmählich mehr ins Volk trug, wo sie besser verstanden wurde — die Petition fand in Arbeiterkreisen mehr Unterschriften als bei den Gebildeten —, lernte den hohen Wert der Arbeiterinnenbewegung schätzen.

 

 Nach eingehenden Beratungen mit Sachverständigen gründete sie mit ihrer energischen Initiative einen „Verein zur Vertretung der Interessen der Arbeiterinnen“, der sich sehr rasch entwickelte, beteiligte sich an dem erfolgreichen Kampf gegen den Nähgarnzoll und wurde durch diese Tätigkeit eifrige und überzeugte Sozialdemokratin. Daß die Förderung des materiellen Wohles der Proletarier die beste Bekämpfung der Prostitution bilde, hatte sie einsehen gelernt; auch, daß der Kampf mit der Allmacht der Polizei in der Zeit des Sozialistengesetzes aussichtslos sei. Trotzdem war sie weit entfernt, die Bekämpfung der Sittenkontrolle aufzugeben, oder ihre bisherigen Erfolge zu unterschätzen; freilich wurde ihr die Arbeit immer schwerer gemacht, da Vorurteil und Rückständigkeit jetzt die Sozialdemokratin denunzierten, um die verhaßte Sittlichkeitsbewegung zu diskreditieren. [S. 680:]

 

 Die Katastrophe erfolgte 1886. Der Arbeiterinnenverein wurde geschlossen, die Wochenschrift „Die Staatsbürgerin“, welche Frau Guillaume seit Anfang des Jahres redigierte, verboten, sie selbst aus Hessen, wo sie zuletzt wohnte, als „lästige Fremde“ ausgewiesen; ihr Heimatrecht hatte sie durch die Heirat mit einem Schweizer verloren. Von England, ihrer zweiten Heimat, kam sie nur noch nach Deutschland, um die geliebten Eltern zu besuchen; jede öffentliche Tätigkeit war ihr versagt.

 

 Bei Deutschen, welche lange in England leben, weckt die große persönliche Freiheit zuerst frohe Begeisterung und reinen Enthusiasmus, der allmählich vor der Einsicht verblaßt, daß diese Freiheit doch nur persönlichem Egoismus dient, der freilich eines großartigen Zuges nicht entbehrt. Nur ein Genius ersten Ranges entzieht sich ganz der lähmenden Einwirkung dieser praktischen Selbstsucht, die nur nächste Ziele kennt; die meisten passen sich an; andere resignieren still und schließen sich mehr oder weniger ab. So auch Gertrud Guillaume, die ihre deutschen Ideale nie ganz abstreifte, aber fortan nur noch in englischer Weise für das Volkswohl weiter arbeitete. Die Führer der Gewerkvereine kannten und ehrten die deutsche Rednerin. Waisenkinder fanden in ihrem Hause Zuflucht und liebevolle Pflege, bis ein schweres Leiden, das sie lange schweigend getragen, sich verschlimmerte. Die theosophische Weltanschauung, die sie sich in England angeeignet, gab ihr, nach den Worten der Ihrigen, ungetrübte Heiterkeit und reinen Seelenfrieden.

 

 Eine Norwegerin, Fräulein Clara Tschudi, schreibt in ihrem Werk über die Frauenbewegung: „Aber keine deutsche Frau hat den moralischen Mut und die eiserne Ausdauer gezeigt, wie Gertrud Guillaume, geborene Gräfin von Schack. Verfolgt und verhöhnt, ist sie jahrelang von Stadt zu Stadt gereist, um die Unsittlichkeit zu bekämpfen. - - - Frau Guillaume - Schack wirkt außerdem mit Vorliebe für die Frauen der Arbeiterklasse und sie hat kürzlich, veranlaßt durch Vorschläge der Regierung, zu mehreren für die Arbeiterin ungünstigen Gesetzen, die Forderung auf Stimmrecht der Frauen erhoben.“

 

 Selten wird in dem kurzen Zeitraum von sieben Jahren (1879 bis 1886) so viel energische Arbeit geleistet, so viel Anregung gegeben, so sehr ins Weite gewirkt worden sein — noch seltener wohl eine solche Wirksamkeit so schnell vergessen. Gertrud Guillaume selbst hat nie Ehrungen oder Anerkennung gesucht. Ihr galt die Sache alles, die Persönlichkeit nichts. Sie streute den Samen mit vollen Händen über das Land und freute sich der Hoffnung, daß die Erntezeit komme, wenn auch für andere.

 

 Gibt aber diese schöne Selbstlosigkeit andern das Recht, sie totzuschweigen, wie es so bald, so energisch geschah? Nur ein Einzelbeispiel sei hier angeführt, weil es sehr geeignet ist, die Art zu kennzeichnen, wie man sie, unmittelbar nach ihrer Ausweisung, bei Seite schob. Im Jahre 1888 gab Dr. Victor Böhmert eine Broschüre heraus: „Der Kampf gegen die Unsittlichkeit.“ Sehr wortreich preist er Dr. Pelmann, der sich „vor einigen Jahren“ über den Gegenstand geäußert; er rühmt Frau Butler, deren Tätigkeit der Regulierung des Lasters in England ein Ende bereitete und fährt fort:

 

In Deutschland ist die Bewegung gegen die Prostitution noch ziemlich jung. Die Rheinisch-westfälische Gefängnisgesellschaft hat sich durch ihre im Oktober 1884 stattgefundenen Verhandlungen über die Prostitution das Verdienst erworben, den seit längerer Zeit ruhenden Kampf wieder von neuem öffentlich aufgenommen zu haben. Hierauf ist im Herbst 1885 ein besonderer 'Christlicher Verein zur Hebung der Sittlichkeit für Deutschland' [S. 681:] gegründet worden. Derselbe gibt eine besondere Monatsschrift: 'Der Korrespondent' in Mülheim a. d. Ruhr heraus.“

 

 Der Kampf, der 1884 seit längerer Zeit geruht haben soll, wurde seit 1879, also in den fünf vorausgehenden Jahren, mit Eifer und Hingebung von Frau Guillaume geführt. Ihr Name war in jeder Zeitung genannt; der „Korrespondent“, der vordem selbständig in Gernsbach (Großherzogtum Baden) erschienen war, kann nicht umhin, sie beständig zu zitieren. Das Jahr 1884 war eins ihrer arbeitsreichsten; in überfüllten Sälen sprach die rastlose Kämpferin in vielen Städten Norddeutschlands; in Hannover und Elbing bildeten sich Zweigvereine des Kulturbundes, in Danzig und Königsberg bereitete man den Anschluß vor; in Berlin fanden fünf Versammlungen statt, [S. 682:] alle stark besucht, alle viel besprochen, überall wurde eine Resolution gegen die Sittenkontrolle angenommen; überall die Petition an den Reichstag vorgelesen und deren Weiterverbreitung dringend ans Herz gelegt. Sie erhielt auch aus allen Teilen Deutschlands Unterschriften. Hat Dr. Böhmert den Namen der Frau, die 1879 als erste den öffentlichen Kampf aufnahm, nie gehört? Wie hat das jemand zustande bringen können, der sich für die Frage interessierte? Seine Broschüre datiert zwei Jahre nach der Ausweisung von Frau Guillaume, zwei Jahre nach dem Ende des Kulturbunds, dessen letzte Mitglieder dem von Dr. Böhmer allein gekannten auf einseitig konfessioneller Grundlage arbeitenden Verein beitraten.

 

 Gertrud Guillaume hat sieben Jahre lang in Deutschland gewirkt, sie ist verkannt und verketzert, verlacht und verspottet, auch bewundert und geliebt worden —, unbekannt ist sie nicht geblieben. Aber sie war Sozialdemokratin, Ausgewiesene, und als solche eine unliebsame Persönlichkeit.

 

 Wer die beiden Broschüren von Frau Guillaume — Vorträge, die in Berlin und Darmstadt gehalten sind — liest, findet darin die beste Darstellung der „Sittlichkeitsbewegung“. Die ruhige Sachlichkeit, die sich nie in wortreiche Phrasen verliert, in der die schlichte Herzenswärme neben dem klaren Verstand sich so sicher behauptet, kennzeichnet das eigenste Wesen der Autorin. Von anmutiger Heiterkeit im Umgang, fröhliche Gespielin der Kinder, deren erwählter Liebling sie war, kannte sie doch bei der Arbeit nur heiligen Ernst und unermüdlichen Fleiß. In der Öffentlichkeit bewirkte die liebenswürdige Bescheidenheit ihres Auftretens, der Wohlklang ihrer Stimme, der hohe Adel der Gesinnung, der aus ihren Worten sprach, ein allmähliches Hinschwinden der ursprünglichen Vorurteile.

 

 Ehe es Ärzte unternahmen, die Öffentlichkeit aufzuklären, hat jene Frau die schweren gesundheitlichen Schäden beleuchtet, welche die staatliche Regelung des Lasters nicht bessert, sondern verschlimmert. Den engen Zusammenhang der wirtschaftlichen Not mit dem Verkauf des eigenen Leibes überschauend, fühlte sie nicht Entrüstung, sondern Teilnahme auch jenen gegenüber, denen der Antrieb fehlt, sich aus dem Sumpf zu retten, in den so viele von frühester Jugend an durch erbarmungslose Hände gestoßen worden sind. Ehrgefühl und moralische Kraft werden ja durch das System der Kontrolle ebenso wirksam untergraben wie die Gesundheit.

 

 Über die Rettung der Opfer des „notwendigen Übels“ sagt sie:

 

Es ist unerläßlich, daß das Rettungswerk die Freiheit der Frauen nicht beschränkt. An das freieste und zügelloseste Leben gewöhnt, werden sie immer, selbst vor dem besten anständigen Lose, das man ihnen bieten kann, zurückschrecken, wenn es mit Zwang verbunden ist. Es steht an uns, ihnen den Eintritt in die Zufluchtstätten zu erleichtern —, freiwillig darin bleiben werden sie nur dann, wenn ihnen der Austritt offen steht. Gebe man ihnen Menschenrechte, und sie werden wieder Menschen werden. Frau Butler, die Begründerin unseres Bundes, sagte mir, in dem von ihr begründeten Heime hatten die Mädchen Tag und Nacht Zutritt, und konnten gehen, wann es ihnen beliebte, aber obwohl sie darin arbeiten mußten, gingen sie nicht, denn sie waren so glücklich. Wenn ihre Zeit, drei Monate, glaube ich, um war, und sie anderweitig untergebracht werden sollten, schieden sie mit Trauer von diesem Hause, in dem sie vielleicht zum erstenmal ein geordnetes Leben kennen gelernt hatten.“

 

 Wären unsere Rettungshäuser nach diesem System eingerichtet, dann würden sie wohl weniger Ungebesserte und weniger Heuchlerinnen entlassen. Daß der freie Wille, [S. 683:] nicht der übermächtige Zwang das beste Erziehungsmittel bildet, sollte nie vergessen werden. Für Gertrud Guillaume ist die oben angeführte Stelle aus einer ihrer Agitationsreden besonders kennzeichnend; ihr Kampf gegen das gesetzliche Unrecht, ihre politische Überzeugungstreue, alle ihre reiche Tätigkeit zeugen in gleicher Weise von dem Grundton ihres Wesens – der Verbindung von Sittlichkeit und Freiheit.

 

Marie Hofmann

 

 

Aus: Marie HOFMANN, Die Anfänge der Sittlichkeitsbewegung in Deutschland, in: Die Frau, Monatsschrift für das gesamte Frauenleben unserer Zeit, Hrsg. Helene LANGE, Gertrud BÄUMER, Berlin 1904, S. 677-683

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Leseempfehlung:

 

  Gertrud Guillaume-Schack in der Wikipedia 

  Gräfin Schack die Superfrau  

  Gründerin des Schweizerischen Arbeiterinnenverbandes  

  Gertrud Guillaume-Schack im Biografischen Lexikon 

  Reisende zwischen den Welten  

 

 

 

 

ERSTELLT: 4. VI. 2009

 

 

 

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