■ Das Mädchen mit dem Gulden1), IV. Teil
Eine wahre Geschichte aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges
IV.
Gegen sechs Uhr früh an einem Wochentag versammelte sich in der Kirche zu Pitschen die Gemeinde, um die gewöhnliche Morgenbetstunde abzuhalten. Nach Beendigung des Liedes trat der ehrwürdige Senior Süssenbach vor den Altar. Obgleich das Alter seinen Körper gebeugt hatte und das spärliche silbergraue Haar, wie die tiefgefurchten Wangen und das halbgesenkte Haupt auf eine übergroße Gebrechlichkeit deuteten, so war doch sein Gang noch fest und sicher und sein Auge von einer Lebenswärme voll, welche nur der Ausfluß des Geistes des HErrn sein konnte, der in dem Schwachen mächtig ist.
Der Pfarrer verlas mit ernster, voller Stimme den zweiten Psalm und fuhr dann fort: „Wer ist der Gesalbte des HErrn, von welchem die Schrift weissaget? Er heißet Jesus Christus! Er ist der eingesetzte König auf dem Berg Zion. Warum toben die Heiden gegen Ihn? Sie können im Dunkel ihrer Weisheit Seine Herrlichkeit nicht fassen, und verlangen nicht nach dem Arzte, weil sie noch nicht wissen, daß sie sterbenskrank sind. Die Könige und Herren im Lande lehnen sich auf und ratschlagen wider Ihn: sie wollen ihre Knie nicht beugen vor Ihm und nicht von Herzen demütig sein, weil sie gern herrschen über alles Volk auf Erden und sich zu erniedrigen meinen, wenn sie dem HErrn dienen. Mit Krieg und Ungestüm ziehen sie einher und zerreißen alle Bande der Gottesfurcht, und werfen von sich die Seile, mit welchen sie unter heiligem Eid sich mit dem HErrn verbunden hatten. Sie wollen die Kirche Christi niederreißen und die Furcht des HErrn aus allen Häusern und Herzen treiben und wollen ein Regiment herrichten ohne Gott, ohne ewiges Leben, ohne Recht und Gerechtigkeit.
Mit Siegesgeschrei ziehen sie einher und vermessen sich und sprechen: "Wer ist der HErr, dessen Stimme wir hören sollten? Siehe, Er redet nicht, denn es ist keiner, der da redet und richtet!" — Aber, der im Himmel wohnt, lacht ihrer, und der HErr spottet ihrer! Er wird einst mit ihnen reden in Seinem Zorn und mit Seinem Grimm wird Er sie schrecken. Er wird sie fragen: "Ich habe euch gerufen mit meiner Stimme, die über alle Welten tönt; ich habe zu euch geredet mit meinem Worte, das wie ein, doppelschneidiges Schwert durchdringet Seele und Leib, und ist ein Richter der Sinne und Gedanken des Herzens — warum habt ihr nicht gehört und euch nicht richten lassen in eurem Sinne und habt eure Gedanken nicht zu mir gewendet? — Ich bin als ein treuer Hirte vor euch hergegangen, euch zu weiden auf meinen Auen — warum seid ihr mir nicht nachgefolgt? Ich habe gesucht alle, die verloren sind — warum habt ihr euch nicht finden lassen, sondern verharrt in eurer Hoffart und predigt eitel Fluchen und Widersprechen!" — Dann werden sie antworten und sagen: "HErr jetzt erkennen wir mit Schrecken, daß Du der König bist; jetzt wollen wir Dir dienen!" Aber Er wird ihnen antworten: "Die Zeit ist erfüllt über euch, und die verlorene Prüfungszeit erkauft ihr nimmer zurück. Ihr habt das Zepter meines Reiches als ein Regiment der Torheit und des Ärgernisses verworfen, nun wird das eiserne Zepter über euch herrschen und euch strafen!" — Ihr aber, über welche die Langmut Gottes heute wieder neu geworden ist, dient ihr dem HErrn mit Furcht, denn Er ist uns von Gott verordnet zur Weisheit, zur Gerechtigkeit, zur Heiligung und zur Erlösung. Freut euch mit Zittern, denn Er ist euer König! Küsset Ihn, den eingeborenen Sohn des ewigen Vaters, in euern Herzen, daß Er sich auch über euch erbarme. Denn Sein Zorn wird kommen, wie ein Dieb in der Nacht. Wohl aber allen, die auf Ihn trauen!“
Als Süssenbach die Erklärung des Psalms hier schloß, herrschte einige Augenblicke das lautloseste Stillschweigen in der ganzen Versammlung. Da war es als ob über des Pfarrers Angesicht ein Schatten hinzöge, der den Ausdruck seiner Glaubensfreudigkeit mit einem Male in den tiefsten Ernst verwandelte. Und er hob an und sprach: „Meine Stunde ist gekommen! Noch heute werde ich mit meinem HErrn im Paradies sein, wenn Er sich über mich Sünder erbarmt! Darum vernehmt als mein letztes Wort an dieser Stätte: Bleibt in der Liebe des HErrn. So ihr Seine Gebote haltet, so bleibt ihr in Seiner Liebe. Seid getreu bis in den Tod, so wird Gott euch die Krone des Lebens geben! Haltet, was ihr habt, daß euch niemand diese Krone raube. Nicht begehre ich von euch, daß ihr meiner gedenkt — denn wer bin ich, und was ist mein Haus, daß Gott mich bis hierher geführt hat? Aber des Wortes gedenkt, daß ich zu euch gesprochen im Dienste meines HErrn das Wort des Lichtes, das in alle Wahrheit leitet, das Wort des ewigen Lebens, das aus der Erde Leid und Freud uns nach dem Himmel zieht, und das Wort vom Kreuz, das uns Versöhnung mit Gott am Thron der Gerechtigkeit verheißt. Zum letzten Male empfangt von mir den Segen des HErrn: Der HErr segne euch und behüte euch! Der HErr erleuchte Sein Angesicht über euch und sei euch gnädig! Der HErr erhebe Sein Angesicht auf euch und gebe euch Frieden. Amen.“
Als Süssenbach mit ungewohnter Kraft seine Rede endete, und dann, als habe er darin den letzten Funken Lebenskraft verwendet, unsicheren, wankenden Schrittes nach der Sakristei zuging, ertönte durch die Kirche ein allgemeines Klagen und Weinen. Mit Nichtachtung der gewöhnlichen Kirchenordnung erhob sich die Versammlung, um über den Altarplatz in die Sakristei einzutreten; zunächst wohl, um dem geliebten Seelsorger, falls ihm ein Übel begegne, Hilfe zu leisten. Als sie aber sahen, daß er, obwohl schwach, doch von keinem anderen körperlichen Unwohlsein befallen war, umringten sie ihn, und bestürmten ihn mit Bitten der rührendsten Art.
„Herr,“ sagte der Eine, „in der Zeit der Not wollt Ihr von hinnen gehen? Wollt Ihr uns Waisen lassen, daß wir ohne Rat und Tat, ohne Trost und Frieden vergehen sollen? Nein, Gott wird Euch nicht von uns nehmen.“ „Nein, Herr,“ setzten andere hinzu, „ das widerfahre Euch nur nicht, daß Ihr sterben solltet! Ist es auch nicht zu früh für Euch, daß Ihr hingehen dürftet als ein frommer und getreuer Knecht, der seine Arbeit treulich vollendet hat, so ist es doch zu früh für uns. Wer soll die Herde weiden, wenn Ihr sie verlaßt?“ „Ja, bleibet noch bei uns,“ baten wieder andere, „denn es will Abend werden und der Tag unseres Friedens hat sich geneigt. Wohin sollen wir gehen?“
„Zu dem allein,“ antwortete der Senior, „der Worte des ewigen Lebens hat. Er ist der gute, treue Hirte, der seine Herde weidet! Murrt nicht wider Gott. Er ist der HErr des Lebens und des Todes! Will Er mich noch eine kleine Weile unter Euch lassen, so wird Er es tun, ehe denn Ihr Ihn darum bittet. Aber mir sagt es der Geist — noch vor diesem Abend wird meine irdische Laufbahn zu Ende sein.“
Als sich Süssenbach hier von seinem Stuhl erhob, auf welchem er nach längerem Sitzen die verlorene Kraft wieder erhalten hatte und nun ins Freie hinaustrat, folgte ihm der trauernde und weinende Zug der Kirchgänger: besonders waren es die Armen der Stadt, die sich an ihn drängten und laut klagten. Er suchte sie zu beruhigen, soweit es möglich war, und bat an seiner Haustür, daß man ihm nicht weiter folgen möge, weil er nun wünsche, mit den Seinen allein zu sein.
Als die Hausfrau schon durch das Getümmel der Leute vor der Tür aufgeschreckt, dem teuren Mann angstvoll entgegeneilte, und den wankenden Schritt, die gebückte Haltung und die erblaßten Wangen erblickte, brach sie in einen Strom von Tränen aus und rief: „Allmächtiger Gott! was ist Dir geschehen? Was wollen die Leute vor der Tür?“ „Nichts ist mir geschehen, als Liebes und Gutes,“ antwortete der Senior, „ängstige Dich nicht, liebe Chavah, ich merke, mein HErr will nun an einem andern Ort mit mir reden.“ „Du bist krank, Vater,“ fuhr die Hausfrau unter Weinen fort, „Dein Aussehen verrät mir es. Die Magd soll sogleich den Arzt rufen.“ „Den Arzt?“ wiederholte Süssenbach mit mildem Lächeln. „Nein, liebe Chavah, ich bedarf keines menschlichen Arztes. Der rechte Arzt, der hier helfen kann, ist schon da. Bereite Du mir aber mein Bett; mich verlangt sehr nach Ruhe.“
Während nun die geängstigte Chavah mit zitternder Hand und unter nicht versiegen wollenden Tränen das Bett bereitete, umschloß Marie, die jüngste Tochter, des Vaters Knie, als dieser sich auf den breiten Armstuhl unterdessen niedergelassen hatte. „Mein Kind,“ sagte der Vater, „wirst Du allezeit Gott vor Augen und im Herzen tragen und Deine Mutter lieben und ihr gehorchen?“ „Ja!“ antwortete die Tochter und weinte laut. „Was seid Ihr doch für kleinmütige Seelen!“ rief der Senior aus. „Weil Gott nach so vielen, vielen guten Tagen ungestörter Gesundheit nun einmal eine schwache Stunde über mich kommen läßt, so seid Ihr sogleich traurig und verzagt, und tut wie die, die keine Hoffnung haben. Ich habe so lange unter Euch gelebt und Euch das Wort vom ewigen Leben gepredigt, und wie alle Leiden dieser Zeit nicht Wert sind der ewigen Herrlichkeit, die an uns soll offenbart werden — und nun, wo Ihr beweisen solltet mit der Tat und Wahrheit, daß ich Euer Seelsorger gewesen bin, nun macht Ihr alle meine Arbeit und Hoffnung zu Schanden. Muß mich das nicht betrüben?“ —
„Zürne uns nicht, lieber Vater!“ bat die Hausfrau. „Wir werden es nie vergessen, wie Du für unserer Seelen Heil gesorgt hast, früh und spät. Aber sollen Mutter und Kind fröhlich sein, wenn der Vater von seinem Tod redet?“ „Gewiß, das solltet Ihr,“ versicherte Süssenbach, „Ihr solltet Euch mit mir freuen, daß nun nach so langem Sehnen das Vollkommene anhebt und ich bald im Schauen wandeln werde. Müssen wir uns nicht hier trennen, wenn wir uns droben Wiedersehen wollen? Muß nicht eins von uns den Anfang machen? Und da es nun Gottes gnädiger Wille ist, daß ich es sein soll, der zuerst unter uns zur Herrlichkeit eingeht, solltet Ihr Euch nicht darum mit mir freuen, obgleich ich unter Euch dieser Auszeichnung am wenigsten Wert bin? Oder redete Euch vielleicht eine Furcht und Sorge mit in Eure Trauer hinein? Da sei Gott vor, daß Ihr Ihn nicht als den Vater der Witwen und Waisen erkannt hättet.“
Unterdessen hatte die Hausfrau das Bett bereitet, und als Süssenbach mit ihrer Hilfe sich auf dasselbe niedergelegt hatte, zog ein Lächeln seligen Glückes über sein bleiches Angesicht; er faltete seine Hände und sprach: „Gott sei Dank, nun liege ich auf meinem Sterbebett und bin bereit, meinem Seelenbräutigam entgegen zu gehen.“
Es konnte nun nicht fehlen, daß durch die Kirchgänger der traurige Vorfall sich mit Blitzesschnelle in der ganzen Stadt verbreitet hatte; und bald darauf eilten die Ratsherren und die übrigen Geistlichen herbei, um mit eigenen Augen zu sehen, was ihnen berichtet worden war. Sie fragten ihn, wie es ihm gehe und was ihm fehle? „Mir geht es über die Maßen gut,“ antwortete er mit der innigsten Freundlichkeit, „ich merke nun, daß kein Glück des Lebens der Stunde zu vergleichen ist, in welcher die Aussicht auf den Eingang ins ewige Leben nahe tritt. Und was mir fehlt, fragt Ihr? — Ach, was soll mir bei der Hirtentreue meines lieben HErrn mangeln? Er hat meine Seele so ganz und innig gefüllt, daß ich mehr habe, als ich verdiene.“
„Habt Ihr, teuerster Senior,“ fragte einer der Geistlichen, „vielleicht noch ein Wort für uns?“ „Kein anderes, liebe Amtsbrüder,“ entgegnete der Senior, „als was ich mit Euch mehr denn ein Menschenalter hindurch gepredigt habe. Gott hat mir die Gnade verliehen, daß ich es noch diesen Morgen in Seinem Haus meiner geliebten Gemeinde ins Herz rufen konnte. Es ist die Weissagung von unferem HErrn im zweiten Psalm; es ist das Wort von Seinem ewigen Reich. Es werden Zeiten kommen und sind schon jetzt da, wo die Könige und Fürsten und Leute aus allerlei Volk sich auflehnen und beratschlagen werden wider den HErrn und Seinen Gesalbten; fürchtet Euch aber darum nicht! Es kann niemand einen anderen Grund legen, als der gelegt ist, Jesus Christus, und was sie darauf bauen, wird nicht bestehen, wenn es nicht Christi ist. Er selbst aber wird Seiner Zeit mit ihnen reden in Seinem Zorne und mit Seinem Grimme wird Er sie schrecken. (Ps. 2, 5.)" „So geht Ihr also in Frieden,“ fragte ein anderer, „und in der Gewißheit Eurer Versöhnung mit Gott in Christo?“ „Ja,“ versicherte der Kranke, „ich habe meinen Erlöser bekannt und weiß, Er wird mich auch vor Seinem himmlischen Vater bekennen. Bin ich auch unter allen Seinen Dienern der geringste und unwürdigste, so werde ich doch durch Seine Gnade bis ans Ende beharren.“
„Haltet nicht gar so gering von Euch!“ fiel hier der Bürgermeister ein. „Was Ihr Gutes getan habt in der langen Zeit Eurer Amtsführung, dessen ist so viel, daß sich niemand in unserer Stadt Euch gleichstellen kann. Wenn Ihr Euch zu den geringsten und unwürdigsten Dienern unsers HErrn rechnet, welchen Trost sollen wir einst in unserer Sterbestunde haben?“ „Ach, lieber Herr,“ antwortete Süssenbach, „wenn wir anfangen wollten, unsere guten Werke zu zählen, um damit gerecht zu werden vor Gott, so stände es schlimm mit uns. Denn je näher wir dem Abscheiden aus diesem Leben kommen, und je heller die Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes vor unserer Seele aufgeht, desto mehr erschrecken wir vor unserer Frömmigkeit, die auch in keinem Dinge dem allsehenden Auge Gottes gegenüber die Prüfung aushalten will. Je mehr wir erkennen, wie wir erkannt sind von Gott, desto tiefer fällt die Schale unserer Schuld, und all unser Glauben und Wandeln fällt zu so traurigem Stückwerke zusammen, daß nur die unermeßliche, ewig reiche Gnade Gottes und die Verheißung in Christo uns vor dem Schrecken und der Furcht des Todes bewahren kann. Ihr wisst ja, meine Freunde, Gott zählt nicht die Werke, die wir getan haben, sondern er wägt die Sinne und Gedanken des Herzens ab, mit welchen wir gelebt und den Kampf des Glaubens bestanden haben. Soll ich Euch an das Wort des HErrn erinnern: "Wenn Ihr alles getan habt, was Euch befohlen ist, so sprecht: Wir sind unnütze Knechte, wir haben getan, was wir schuldig waren." (Luc. 17, 10.) Dies Wort ist nur für die, die alles getan haben, was sie zu tun schuldig waren. Nun sagt, Freunde, wer von uns will sich zu solchen Knechten rechnen?“ — „Meint ihr,“ entgegnete der Bürgermeister, „daß Ihr es nicht tun dürfet, so dürfen wir es noch viel weniger.“ „Überlasst Gott dies Gericht,“ fuhr der Senior fort. „Bittet Ihn aber, daß Er Euch allen in Eurer Sterbestunde den Trost und die Gewißheit der Vergebung Eurer Sünden gebe. Nur mit solcher Zuversicht, die der Geist Gottes in unser Herz bringt, gibt es keine Furcht vor dem Tode.“
Als Süssenbach hier schwieg und auf einige Augenblicke eine tiefe Stille eintrat, drang auf einmal der Ton einer sanften Musik in das Zimmer des Sterbenden. Es war die Melodie eines Kirchenliedes von Posaunen geblasen und in solcher feierlichen, harmonischen Weise, daß alle Anwesenden davon tief ergriffen wurden. Ein jeder öffnete sein Herz dieser himmlischen Harmonie und schwelgte still und selig in dem metallenen Gruß, der durch die Lüfte wie ein Schwanengesang sich dahin zog. Erst als die Melodie geendet war, wurde das Atemholen der Leute im Zimmer wieder hörbar, und jeder fragte sich, woher diese liebliche Musik gekommen sei? *) Süssenbach hatte mit geschlossenen Augen die ganze Zeit über da gelegen, aber über seine Züge war ein heiliges Zittern gegangen, das deutlich zeigte, in welche innige Verbindung er dies Ereignis mit seinem Gemütszustand bringe, und wie er sich diese Musik deute. Selbst als die Übrigen nach Beendigung dieses Chorals von ihrer lautlosesten Aufmerksamkeit abgelassen hatten, verharrte der Senior noch in seiner beseligenden Ruhe, so daß ein leises Flüstern der Besorgnis, ob nicht vielleicht der Todeskampf schon beendet sei, von Mund zu Munde ging. Da wagte es die weinende Hausfrau, ihre Hand auf des Sterbenden Stirn zu legen und mit beklommener Stimme zu fragen: „Vater, willst Du Dein Auge nicht mehr zu uns aufschlagen?“ „O gern, mein teures Leben,“ antwortete er mit dem liebreichsten Lächeln, „so lange als mir es der Tod nicht schließen und Deine Hand mir zudrücken wird. Hast Du denn auch die wunderschöne Musik gehört, den Lobgesang der himmlischen Heerschaaren, die mich in das Paradies begleiten soll?“ „Ja wohl," sagte Chavah, „aber sollte es denn wirklich mit Dir zum Sterben kommen?“ „Frage den HErrn des Lebens und des Todes,“ antwortete der Kranke, „siehe, ich bin Sein Knecht, mir geschehe, wie Er will. Meinst Du nicht, daß ich es gut habe? Warum weinst Du denn? — Und wo ist mein Kind, meine Marie?“ —
Die Mutter legte der Tochter Hand in die des Vaters; denn obgleich sein Auge geöffnet war, so schien es doch, als ob seine Sehkraft schon gebrochen sei. „Mein Kind!“ sagte der Vater und legte seine Rechte segnend auf ihr Haupt. „Bleibe in dem, was Du gelernt hast, und Dir vertraut ist. Und weil Du von Kind auf die Heilige Schrift weißt, wird Dich die selbige unterweisen zur Seligkeit durch den Glauben an Christum Jesum. (2. Thimoth. 3, 14. 15.) Bleibe Deiner Mutter eine gehorsame Tochter, Deinen Geschwistern, die heute fern von hier sind, eine treue Schwester, und dem HErrn eine fromme Magd. Dir aber, meine teure Chavah, bleibe der Trost und Friede Dessen, der früh und spät uns ausgeholfen in leiblicher wie in geistiger Not. Dein Herz erschrecke nicht, wenn mich der Vater ruft; weißt Du doch, daß für uns alle dort Wohnungen bereitet sind. Auch Du wirst es am Ende gut haben, wenn Du im Glauben und in der Gottseligkeit beharrst. Willst Du das?“ „So wahr ich Dich liebe,“ antwortete sie mit gebrochener Stimme, „und so wahr mir Gott helfe.“ „Nun siehst Du, meine liebe Chavah,“ fuhr er fort, „daß die Gottseligkeit doch zu allen Dingen nütze ist, und daß sie die Verheißung hat dieses und des zukünftigen Lebens.“
Und als er dies gesagt hatte, kehrte er sein Angesicht nach der Wand; die Hand aber, welche er bei den letzten Worten auf das Herz gehalten hatte, fiel kraftlos in den Schoß hinab. Und als Chavah ihn bei seinem Namen rief, antwortete er nicht. Der Engel des Todes hatte sein Herz berührt.
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Und nun Dir, lieber Leser, zum Schluß dieser wahrhaftigen Geschichte noch das Wort der Schrift: „Ihr aber, meine Lieben, erbauet euch auf euerm allerheiligsten Glauben durch den heiligen Geist und betet, und behaltet euch in der Liebe Gottes, und wartet auf die Barmherzigkeit unseres HErrn Jesu Christi zum ewigen Leben.“ (Jud. V. 20. 21.)
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*) In der Sammlung auserlesener Materien zum Baue des Reiches Gottes (II. S. 226 ff.) wird diese Musik insofern als ein übernatürliches Ereignis dargestellt, als der Autor erzählt: es sei die herrlichste Musik eines ganzen Chores gewesen, welche plötzlich durch die ganze Stadt ertönt sei. Die Bürger hätten nie eine so liebliche Musik gehört und niemand hätte gewußt, woher sie gekommen. Einige wären nach dem Rathaus geeilt, (wo einige male in der Woche ein Choral geblasen wurde) andere zur Stadtmauer und wieder andere hätten gemeint, sie käme vom Turm. Ja, der Organist habe die Musik schnell in Noten setzen wollen, aber all seine Mühe sei vergebens gewesen.
NN
Der obigen Geschichte Teil I , Teil II und Teil III
Aus: NN, Senior Süssenbach, Teil IV, in: Echo aus der Heimath und Fremde, Hgb. J.D. Prochnow, Nr. 8, 5. Jhrg., Pfarrhaus der St. Johannis-Kirche Moabit, Berlin 1868, [S. 123-126]
Anmerkung der Redaktion: 1) Im Original lautet der Titel der Erzählung: „Senior Süssenbach“. Der Wortlaut wurde der zuletzt gültigen Rechtschreibung angeglichen. 2) Pastor Süssenbachs Kurzvita in der „Presbyterologie des evangelischen Schlesiens“ und eine ausführliche in der „Geschichte der Stadt Pitschen“
Empfehlung: Der 5. Band der o.a. Zeitschrift im Antiquariatshandel
ERSTELLT: 25.XII.2011
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